Es hatte mehreren Hin- und Her-Schreibens bedurft bis ich überhaupt
begriffen hatte, was der Mensch, der mich ohne großartige Begrüßungsfloskeln
oder sonstige Höflichkeitsbezeugungen per Mail kontaktiert hatte, eigentlich
von mir wollte. Offenbar war er auf YouTube über den deutschen Kino-Trailer des
zweiten Afrika-Mondos gestolpert, den die Gebrüder Alfredo und Angelo Castiglioni
im Jahre 1971 unter dem Titel AFRICA AMA veröffentlicht haben. Seine Frage
lautete, ob es von diesem Film denn eine unzensierte Fassung geben würde, denn
der deutsche Kinotrailer zeige eine solche. Nachdem ich mich von dem
Gefühl erholt hatte, geschmeichelt zu sein, dass ich in gewissen Kreisen
offenbar bereits als Mondo-Experte genug gelte, dass man sich mit solchen nerdigen
Fragen vertrauensvoll an mich wendet, habe ich mir zusammengereimt, dass sich
mein Gegenüber wohl auf die unterschiedlich veranschlagten Laufzeiten des Films
beziehen müsse. Ich schrieb ihm zurück: Ja, ich weiß, die deutsche Kinofassung, die
ich niemals zu Gesicht bekommen habe und die, falls sie denn überhaupt noch
existiert, wohl in irgendeinem Kellerarchiv von Motten zerpflückt werden wird, soll laut diversen
Quellen eine Länge von 104 Minuten besessen haben, während sämtliche Versionen,
die einem aus den Schlünden des Netzes entgegenspringen, sich einzig bei knapp 97
Minuten einpendeln. Nein, nein, antwortete mir mein neuer Brieffreund erneut
ohne jegliche freundliche Anrede: Worauf er hinauswolle, sei etwas ganz
Anderes. Bei jeder Fassung, die er kenne, seien die Beschneidungen der Jungen
unzensiert, die der Mädchen jedoch zensiert. Im YouTube-Trailer allerdings könne man sehen, dass dem dort nicht so sei. Ich überprüfte das. Konkret an diese
Szene konnte ich mich nicht mal mehr erinnern – wahrscheinlich deshalb, weil im
Oeuvre der Castiglionis derartige Bilder nun wirklich keine Seltenheit
darstellen. Kleine Buben und kleine Mädchen werden bei einem Initiationsritus
um ihre Vorhäute und Klitoriden erleichtert. Er hatte Recht: Selbst in
der mir vorliegenden italienischsprachigen Version sind die Geschlechtsteile
der Mädchen mit einem sogenannten Blurren überschrieben – (gibt es dieses
Substantiv überhaupt?) -; die Penisse der Jungen hat man zumindest in dieser Hinsicht
unangetastet gelassen. Meine Vermutung im ersten Moment: Die Fassung stammt aus
irgendeiner japanischen Bootleg-Quelle, wo Geschlechtsteile ja eher ungern
gesehen sind. Weshalb aber nur die der Mädchen mit dem Mäntelchen der Scham
bedeckt wurden, und die der Buben nicht, konnte ich ihm ebenso wenig erklären wie, ob und wie er an die dem YouTube-Trailer entsprechende Version herankommen könne, wo man das Elend
in seiner ganzen Pracht zu sehen kriegt. Während ich ihm zurückschrieb, stellte
sich mir jedoch eine ganz andere Frage, die ich dann auch ungeniert
niederschrieb: Wie genau wertet es AFRICA AMA denn auf, wenn dieser Blurr-Effekt
in den entsprechenden – und außerdem, gemessen an der Laufzeit, minimalen - Szenen wegfällt? Oder, anders
gesagt: Weshalb will man denn überhaupt en detail und in Großaufnahme sehen,
wie eine Klitoris mittels eines rostigen Rasiermessers amputiert wird? Eine
Rückmeldung erhielt ich nicht. Möglicherweise kam ich zu sehr als Moralapostel
herüber.
Über eine Assoziationskette, die ich heute nicht mehr wirklich
nachvollziehen kann, habe ich am gleichen Tag jedenfalls nach dem überaus
lohnenswerten, Anfang der 1990er bei Reclam Leipzig erschienenen Sammelband „Prolog
vor dem Film“ gegriffen, der verschiedene kurze Texte von Literaten,
Intellektuellen, Künstlern zwischen 1909 und 1914 vereint, die sich kritisch,
euphorisch oder abwägend dem neuen kinematographischen Medium zuwenden. Max
Brod, Alfred Döblin, Victor Klemperer, Egon Friedell, Georg Lukács, Ernst Bloch
berichten in zeitgenössischen Artikeln über ihre Abneigung dem Kino gegenüber,
dessen jugendverderbenden Charakter, seine Defizite gegenüber dem Theater und
anderen schönen Künsten, seine Trivialität, seine gesundheitlichen Risiken,
aber auch die Chancen, die der Stummfilm birgt, seine erzieherische Funktion,
seine künstlerischen Möglichkeiten, wenn man sie denn nur richtig ausschöpfe,
seinen Symptomcharakter für eine augenblickshafte, moderne Großstadtwelt. Ein Text
sticht in diesem antiquarisch leicht erhältlichen Kompendium hervor – und genau
in das Wespennest, das meine Korrespondenz mit dem AFRICA-AMA-Aficionado in mir
mal wieder zum Summen gebracht wird. In ihm berichtet Kurt Tucholsky über
seinen Besuch bei der Preußischen Filmzensurbehörde. Erschienen ist er in der
vierzigsten Ausgabe von „Die Schaubühne“ vom 02.10.1913. Es ist, als sei die berühmt-berüchtigte
ZDF-Dokumentation MAMA, PAPA, ZOMBIE etwa ein halbes Jahrhundert vor ihrer
Erstausstrahlung bereits literarisch vorweggenommen worden – mit dem Unterschied,
dass Tucholsky freilich weitaus differenzierter argumentiert als die Splatter-VHS-Jäger
der 80er Jahre. Anbei der Text in seiner vollen Länge:
Kurt Tucholsky
Verbotene Films
Herrn Professor Karl Brunner
"O du gesegnetes Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten! O
du sein gesegneter § 10 II 17: »Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der
öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem
Publiko oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu
treffen, ist das Amt der Polizei,« Das ist ein Sätzchen! Jeden Bürger,
der mit dem Kasernenton kollidiert, jeden verprügelten Streiker, jedes
Opfer stiller Polizeiwachtstuben – sie alle weist ein dicker Zeigefinger
auf jene Vorschrift. Die ist aus Gummi und umfaßt wie eine Zelle die
Gehirne unterer und oberer Subalterner. Versammlungsverbote,
Polizeischikanen gegen alte Zeitungsfrauen, Theaterzensur –: § 10 II 17.
Aber
einmal müssen wir ihn segnen und lobpreisen, den Kautschukparagraphen,
auf dass er lange lebe auf Erden. Denn siehe, er zeugte die Filmzensur.
Wenn
eine Filmfabrik einen Film fertiggestellt hat, oder eine
Vertriebsstelle einen englischen oder französischen Film einführen will,
dann schickt sie einen Vertreter mit der Zelluloidrolle ins Berliner
Polizeipräsidium, und dort wird zensiert. (Das beruht auf einem Abkommen
zwischen Filmindustrie und Verwaltung, die sich eigentlich nur an die
Theater halten darf, aber allen Beteiligten den langweiligen Regreßweg:
Kinotheater – Verleiher – Fabrikant erspart.) Die Kompetenz dieser
Zensurbehörde erstreckt sich nur über Preußen; die einzelne
Ortspolizeibehörde darf aber entgegengesetzte Entscheidungen fällen.
Hier
also – in den beiden Vorführungsräumen, die bald nicht mehr ausreichen –
wird werktäglich von zehn bis drei Uhr von einer preußischen
Verwaltungsbehörde eine Tätigkeit ausgeübt, die man ihr sonst nicht
nachsagen kann: Kulturarbeit. Fehlte diese Zensur – nicht auszudenken
wäre es.
Also von zehn bis drei sitzen die armen Polizeiräte da, und lassen ununterbrochen an sich vorüberziehen: ›Aus Liebe zum Mordbrenner‹, ›In den Tagen Napoleons‹ (aktuell), ›Das letzte Blockhaus‹, ›Nat Pinkerton oder Die schwarze Kaste‹ –
Kiste vermutlich, diese Aufschriften sind stets verdruckt. Von zehn bis
drei. Der Raum ist mittelgroß, nur erhellt von der kleinen
grünbeschirmten Lampe am Aktentisch. Die Beamten, deren Augen nicht
besser werden, halten sich mühsam wach und fluchen ihrem Geschick, der
Apparat surrt – zehntausend Meter täglich – und hier wird klarer als je,
wie dies ganze Gezappel auf der Leinwand mit Kunst nichts zu tun hat.
Wie mit altem Plunder und minderwertigem Menschenmaterial etwas
vorgetäuscht wird, das selbst bei guter Darstellung kalt läßt. Wie
dreißig Filmmeter lang eine Kiste zugenagelt wird, Leute ein Mittagsmahl
einnehmen. Wie man geht. Wie man läuft. Aber das wäre nur zu ertragen,
wenn die Gesten dieser Tätigkeit parodiert würden (was eigentlich nur
Prince und Linder können), wenn gezeigt würde: Seht, so ulkig seid ihr,
wenn ihr euerm Tagwerk nachgeht! Nichts davon. Statt dessen: Dramas. Ein
säckscher Erklärer, den eine Firma hierhersandte, liest die Texte vor,
die der Beamte mit den eingereichten Akten vergleicht. Das zerschtörte
Lähmsglick; Lort Därbi fordert die Duellisten auf, nachzugähm; Ein Fest
in den Tulljérjen – »Tülriin«, verbessert der Polizeirat, und wie sie
sich so gegenseitig das Zeug vorlesen, denkt man an ein lateinisches
Pensum, das mühselig und stöhnend zu Ende gebracht werden muß. Bei dem
großen Hindianermassacka wird der Sachse gesprächig. Er taut auf. Er mag
sich nicht gern aus dem Film etwas herausschneiden lassen und erzählt
allerlei. Schon, damit der Herr Rat nicht so aufpassen. »Nämlich, diese
Hintianer, die gehen nu ein. Ja. Sie können die moderne Modernisie-rung
nich so vertragen. Sie..,« – »Nanu, nanu«, sagt der Rat, »was ist denn
das?« Auf der Leinwand ist gerade die ›schleichende Hand‹ dabei, ihre
Streitaxt wirbelnd im Schädel eines Weißen zu begraben, »Ja«, begütigt
der Sachse, »'s is äm en unguldiwiertes Volk.« Aber es hilft ihm nichts;
auf der gelben Kontrollkarte, die jedem Film beiliegen muß, wird diese
Stelle beanstandet. Schneidet sie die Firma nicht freiwillig heraus,
wird der ganze Film verboten. (Dagegen gibt es Klage im
Verwaltungsstreitverfahren oder die Beschwerde, die beide im
Oberverwaltungsgericht als der letzten Instanz münden.) Gar nicht
beleidigt schiebt der Mann ab; denn was er hier ausschneidet, wird er
(mit Gott!) zu Hause wieder zusammenfügen. Deswegen sitzen hier zwei
dicke, kurzstirnige Herren, Kriminalbeamte, die zur Anzeige bringen, was
sie an Verbotenem sehen. Und so jagt ein Film den andern. In der Ecke
steht ein bescheidener Mann, ein Schauspieler, der sich hier noch einmal
bespiegeln will, und es ist auch alles so langweilig, dass sie ihm
nichts streichen. Ein kleiner Herr kommt herein: er wünscht eine
Titeländerung. ›Hujo, der Bandit‹ ist ihm nicht genug – ›Im Sinnestaumel‹ will er dafür haben. Genehmigt. Ach, wenn es doch wenigstens ein Sinnestaumel wäre! Aber es ist keiner.
Der
Polizeirat mit der (symbolischen) Schere sitzt am Tisch und muß
aufpassen. Er macht wundervolle Bemerkungen. Er ist klug und vernünftig
(wie denn überhaupt bei uns die Geheimräte ebenso liberal und tolerant
sind, wie die Subalternen grob und unfähig). Breit und gemütlich ruft er
so allerhand dazwischen, Glossen, die noch beim übelsten Theaterpathos
zu verwerfen wären – hier sind sie richtig. Vor diesen Kindern, die
pausbäckig und langwimperig aussehen wie eine Reklame von
Sunlight-Seife; vor diesen Automobilschiebern, die vorgeben, Detektive
zu sein; vor diesen Sioux' – id est: der Naturmensch Voigt und
Käsewillem mit die Locken ... hier muß man kapitulieren, sich übergeben.
Diese Beamten kennen die Struktur jedes Films – ihnen kann man nichts
mehr vormachen.
Und hier, aber nur hier, sind die Maximen am
Platz, wonach zensiert wird. Wollte man in der Literatur keine strafbare
Handlung, keine offene Gewalttätigkeit durchlassen, so müßte man mit
Ausnahme der Heimburg alles verbieten.
Hier ist klare Berechnung
auf Sensation. Diese Menschen haben Filme herstellen lassen, von denen
wir dank der Zensur nichts ahnen. Alle in den landläufigen Filmen
angedeuteten Grausamkeiten existieren ausgeführt. Sie werden gestrichen –
aber hier wird jeder Mord, jeder Überfall langwierig und exakt
vorgeführt. Es gibt einen (gestellten) Fliegerabsturz, dessen
Ekelhaftigkeit seinesgleichen sucht. In brennenden Sparren wälzt sich
ein blutender Klumpen – das Ding ist vorzüglich gemacht – eine Frau
wirft sich verzweifelt über den Sterbenden, schreit, sie kommen mit der
Tragbahre. Und das mit einer pedantischen Genauigkeit, die durch nichts
gerechtfertigt ist als durch die Sucht, Geld zu machen, auf Kosten
gequälter oder angeregter Nerven, je nachdem es sich um den Westen oder
Osten einer Stadt handelt. (Als wieder einmal die Leichen dutzendweise
herumlagen, und der Beamte murrte, sagte einer der anwesenden Filmisten:
»Geschäft ist Geschäft.« Gewiß, und Schweinerei ist Schweinerei.)
Nervenkitzel, auf Hintertreppenart – es ist ihnen alles gleich. Ein Mann
liegt auf einer Säge, festgebunden auf Baumstämmen, immer näher rutscht
er an die Zähne, immer näher; das dauert wenigstens zwei Minuten. Da
sind die Krankenhausfilme mit Vivisektion, Serumseinspritzungen und
Elendsgestalten im Bett. Da gibt es eine Augenoperation: der Kranke wird
in ein weißes Tuch gehüllt, das nur ein Auge frei läßt; dann erscheint
das Auge, riesengroß, die Lider von zwei Klammern auseinandergezerrt,
und eine Spritze pikt langsam in das Weiße. So.
Hier ist der
bürgerlich abwägende Normalbeamte am Platz. Hier kann kunstwidrig und
trocken die Handlung des Intriganten gestrichen werden, »weil er ein
gemeiner Kerl ist«. Hier ja. Weil das Pack vor nichts zurückschreckt.
Weil sie bei dem Sturz des Fliegers von der Siegessäule behaglich
kurbelten und nicht ruhten, als bis sie auch die widerliche Bergung der
Leiche hatten. (Der Film liegt noch auf dem Präsidium.) Weil ihnen alles
gleich ist, wenn es ums Geld geht; weil sie im Dreck wühlen, damit das
zittrig-neugierige Publikum Einblick in wohlverhüllte Dinge bekomme. Sie
haben »an Ort und Stelle« das Leben Jesu gefilmt, und sie würden auch
heute noch eine Hinrichtung aufnehmen.
Daß da manches zum Opfer
fällt, was ganz lustig ist – macht nichts. Ein reizender amerikanischer
Damendarsteller, der noch im Korsett Zigarren rauchte, fiel – weil er
›auf perverser Grundlage‹ beruhe. Nun, diese Art Filme haben selten den
Schick, den dieser Jüngling entwickelte, als er seine Röcke hochnahm,
und trippelnd zu laufen begann, wie ein Weib. Meist haben wir nicht viel
verloren. Und die andern, beschlagnahmten, die ich sah, waren wie
üblich. Zum Abgewöhnen. Gewiß: Mißgriffe kommen vor. Ein Boxerfilm ging
durch, auf dem die Kämpfer sportswidrig mit bloßen Fäusten, ohne
Handschuhe aufeinander losprügelten – von derselben Verwaltung werden
dem berliner Boxmeister Edwards die größten Schwierigkeiten in den Weg
gelegt. Immerhin: im großen ganzen ist es gut, dass in Zweifelsfällen
gestrichen wird.
Aber ein andres ist eine Gefahr. Im
selben Gebäude, ein paar Stockwerke höher, wohnt die Theaterzensur. Hier
werden, immer noch, aus politischen, verwaltungstechnischen,
unkünstlerischen Gründen, Kunstwerke umgebracht. Die Filmisten rennen
gegen ihre Zensur mit unsern Gründen Sturm. Dieser Kampf schadet uns.
Das will freie Hand haben, um Geld zu scheffeln, das kreischt aufgeregt
von der Freiheit der Kunst und rempelt alle paar Nummern seiner
Fachpresse Beamte an, die mehr Geschmack, Verstand und Anstandsgefühl
haben, als die ganze Gesellschaft.
Die Filmzensur ist nötig. Weil
Kinder eine starke Hand nötig haben. Und weil für eine Schulklasse von
Rüpeln der Stock gerade gut genug ist.
Die Erwachsenen aber täten
gut, die Kinder immer mehr von sich abzuschütteln und jede
Zusammengehörigkeit auch im Schein zu vermeiden. Hier gibt es keinen
Kompromiß. Hie Kunst! Hie Kino!"
(Zit. n.: Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig 1992, 214-219.)