Donnerstag, 31. Mai 2018

Filmzensur 1913. Mit Kurt Tucholsky verbotene Filme gucken.


Es hatte mehreren Hin- und Her-Schreibens bedurft bis ich überhaupt begriffen hatte, was der Mensch, der mich ohne großartige Begrüßungsfloskeln oder sonstige Höflichkeitsbezeugungen per Mail kontaktiert hatte, eigentlich von mir wollte. Offenbar war er auf YouTube über den deutschen Kino-Trailer des zweiten Afrika-Mondos gestolpert, den die Gebrüder Alfredo und Angelo Castiglioni im Jahre 1971 unter dem Titel AFRICA AMA veröffentlicht haben. Seine Frage lautete, ob es von diesem Film denn eine unzensierte Fassung geben würde, denn der deutsche Kinotrailer zeige eine solche. Nachdem ich mich von dem Gefühl erholt hatte, geschmeichelt zu sein, dass ich in gewissen Kreisen offenbar bereits als Mondo-Experte genug gelte, dass man sich mit solchen nerdigen Fragen vertrauensvoll an mich wendet, habe ich mir zusammengereimt, dass sich mein Gegenüber wohl auf die unterschiedlich veranschlagten Laufzeiten des Films beziehen müsse. Ich schrieb ihm zurück: Ja, ich weiß, die deutsche Kinofassung, die ich niemals zu Gesicht bekommen habe und die, falls sie denn überhaupt noch existiert, wohl in irgendeinem Kellerarchiv von Motten zerpflückt werden wird, soll laut diversen Quellen eine Länge von 104 Minuten besessen haben, während sämtliche Versionen, die einem aus den Schlünden des Netzes entgegenspringen, sich einzig bei knapp 97 Minuten einpendeln. Nein, nein, antwortete mir mein neuer Brieffreund erneut ohne jegliche freundliche Anrede: Worauf er hinauswolle, sei etwas ganz Anderes. Bei jeder Fassung, die er kenne, seien die Beschneidungen der Jungen unzensiert, die der Mädchen jedoch zensiert. Im YouTube-Trailer allerdings könne man sehen, dass dem dort nicht so sei. Ich überprüfte das. Konkret an diese Szene konnte ich mich nicht mal mehr erinnern – wahrscheinlich deshalb, weil im Oeuvre der Castiglionis derartige Bilder nun wirklich keine Seltenheit darstellen. Kleine Buben und kleine Mädchen werden bei einem Initiationsritus um ihre Vorhäute und Klitoriden erleichtert. Er hatte Recht: Selbst in der mir vorliegenden italienischsprachigen Version sind die Geschlechtsteile der Mädchen mit einem sogenannten Blurren überschrieben – (gibt es dieses Substantiv überhaupt?) -; die Penisse der Jungen hat man zumindest in dieser Hinsicht unangetastet gelassen. Meine Vermutung im ersten Moment: Die Fassung stammt aus irgendeiner japanischen Bootleg-Quelle, wo Geschlechtsteile ja eher ungern gesehen sind. Weshalb aber nur die der Mädchen mit dem Mäntelchen der Scham bedeckt wurden, und die der Buben nicht, konnte ich ihm ebenso wenig erklären wie, ob und wie er an die dem YouTube-Trailer entsprechende Version herankommen könne, wo man das Elend in seiner ganzen Pracht zu sehen kriegt. Während ich ihm zurückschrieb, stellte sich mir jedoch eine ganz andere Frage, die ich dann auch ungeniert niederschrieb: Wie genau wertet es AFRICA AMA denn auf, wenn dieser Blurr-Effekt in den entsprechenden – und außerdem, gemessen an der Laufzeit, minimalen - Szenen wegfällt? Oder, anders gesagt: Weshalb will man denn überhaupt en detail und in Großaufnahme sehen, wie eine Klitoris mittels eines rostigen Rasiermessers amputiert wird? Eine Rückmeldung erhielt ich nicht. Möglicherweise kam ich zu sehr als Moralapostel herüber.
Über eine Assoziationskette, die ich heute nicht mehr wirklich nachvollziehen kann, habe ich am gleichen Tag jedenfalls nach dem überaus lohnenswerten, Anfang der 1990er bei Reclam Leipzig erschienenen Sammelband „Prolog vor dem Film“ gegriffen, der verschiedene kurze Texte von Literaten, Intellektuellen, Künstlern zwischen 1909 und 1914 vereint, die sich kritisch, euphorisch oder abwägend dem neuen kinematographischen Medium zuwenden. Max Brod, Alfred Döblin, Victor Klemperer, Egon Friedell, Georg Lukács, Ernst Bloch berichten in zeitgenössischen Artikeln über ihre Abneigung dem Kino gegenüber, dessen jugendverderbenden Charakter, seine Defizite gegenüber dem Theater und anderen schönen Künsten, seine Trivialität, seine gesundheitlichen Risiken, aber auch die Chancen, die der Stummfilm birgt, seine erzieherische Funktion, seine künstlerischen Möglichkeiten, wenn man sie denn nur richtig ausschöpfe, seinen Symptomcharakter für eine augenblickshafte, moderne Großstadtwelt. Ein Text sticht in diesem antiquarisch leicht erhältlichen Kompendium hervor – und genau in das Wespennest, das meine Korrespondenz mit dem AFRICA-AMA-Aficionado in mir mal wieder zum Summen gebracht wird. In ihm berichtet Kurt Tucholsky über seinen Besuch bei der Preußischen Filmzensurbehörde. Erschienen ist er in der vierzigsten Ausgabe von „Die Schaubühne“ vom 02.10.1913. Es ist, als sei die berühmt-berüchtigte ZDF-Dokumentation MAMA, PAPA, ZOMBIE etwa ein halbes Jahrhundert vor ihrer Erstausstrahlung bereits literarisch vorweggenommen worden – mit dem Unterschied, dass Tucholsky freilich weitaus differenzierter argumentiert als die Splatter-VHS-Jäger der 80er Jahre. Anbei der Text in seiner vollen Länge:

 

Kurt Tucholsky 


Verbotene Films

                                                                                                                   Herrn Professor Karl Brunner

"O du gesegnetes Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten! O du sein gesegneter § 10 II 17: »Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publiko oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizei,« Das ist ein Sätzchen! Jeden Bürger, der mit dem Kasernenton kollidiert, jeden verprügelten Streiker, jedes Opfer stiller Polizeiwachtstuben – sie alle weist ein dicker Zeigefinger auf jene Vorschrift. Die ist aus Gummi und umfaßt wie eine Zelle die Gehirne unterer und oberer Subalterner. Versammlungsverbote, Polizeischikanen gegen alte Zeitungsfrauen, Theaterzensur –: § 10 II 17.
Aber einmal müssen wir ihn segnen und lobpreisen, den Kautschukparagraphen, auf dass er lange lebe auf Erden. Denn siehe, er zeugte die Filmzensur.
Wenn eine Filmfabrik einen Film fertiggestellt hat, oder eine Vertriebsstelle einen englischen oder französischen Film einführen will, dann schickt sie einen Vertreter mit der Zelluloidrolle ins Berliner Polizeipräsidium, und dort wird zensiert. (Das beruht auf einem Abkommen zwischen Filmindustrie und Verwaltung, die sich eigentlich nur an die Theater halten darf, aber allen Beteiligten den langweiligen Regreßweg: Kinotheater – Verleiher – Fabrikant erspart.) Die Kompetenz dieser Zensurbehörde erstreckt sich nur über Preußen; die einzelne Ortspolizeibehörde darf aber entgegengesetzte Entscheidungen fällen.
Hier also – in den beiden Vorführungsräumen, die bald nicht mehr ausreichen – wird werktäglich von zehn bis drei Uhr von einer preußischen Verwaltungsbehörde eine Tätigkeit ausgeübt, die man ihr sonst nicht nachsagen kann: Kulturarbeit. Fehlte diese Zensur – nicht auszudenken wäre es.
Also von zehn bis drei sitzen die armen Polizeiräte da, und lassen ununterbrochen an sich vorüberziehen: ›Aus Liebe zum Mordbrenner‹, ›In den Tagen Napoleons‹ (aktuell), ›Das letzte Blockhaus‹, ›Nat Pinkerton oder Die schwarze Kaste‹ – Kiste vermutlich, diese Aufschriften sind stets verdruckt. Von zehn bis drei. Der Raum ist mittelgroß, nur erhellt von der kleinen grünbeschirmten Lampe am Aktentisch. Die Beamten, deren Augen nicht besser werden, halten sich mühsam wach und fluchen ihrem Geschick, der Apparat surrt – zehntausend Meter täglich – und hier wird klarer als je, wie dies ganze Gezappel auf der Leinwand mit Kunst nichts zu tun hat. Wie mit altem Plunder und minderwertigem Menschenmaterial etwas vorgetäuscht wird, das selbst bei guter Darstellung kalt läßt. Wie dreißig Filmmeter lang eine Kiste zugenagelt wird, Leute ein Mittagsmahl einnehmen. Wie man geht. Wie man läuft. Aber das wäre nur zu ertragen, wenn die Gesten dieser Tätigkeit parodiert würden (was eigentlich nur Prince und Linder können), wenn gezeigt würde: Seht, so ulkig seid ihr, wenn ihr euerm Tagwerk nachgeht! Nichts davon. Statt dessen: Dramas. Ein säckscher Erklärer, den eine Firma hierhersandte, liest die Texte vor, die der Beamte mit den eingereichten Akten vergleicht. Das zerschtörte Lähmsglick; Lort Därbi fordert die Duellisten auf, nachzugähm; Ein Fest in den Tulljérjen – »Tülriin«, verbessert der Polizeirat, und wie sie sich so gegenseitig das Zeug vorlesen, denkt man an ein lateinisches Pensum, das mühselig und stöhnend zu Ende gebracht werden muß. Bei dem großen Hindianermassacka wird der Sachse gesprächig. Er taut auf. Er mag sich nicht gern aus dem Film etwas herausschneiden lassen und erzählt allerlei. Schon, damit der Herr Rat nicht so aufpassen. »Nämlich, diese Hintianer, die gehen nu ein. Ja. Sie können die moderne Modernisie-rung nich so vertragen. Sie..,« – »Nanu, nanu«, sagt der Rat, »was ist denn das?« Auf der Leinwand ist gerade die ›schleichende Hand‹ dabei, ihre Streitaxt wirbelnd im Schädel eines Weißen zu begraben, »Ja«, begütigt der Sachse, »'s is äm en unguldiwiertes Volk.« Aber es hilft ihm nichts; auf der gelben Kontrollkarte, die jedem Film beiliegen muß, wird diese Stelle beanstandet. Schneidet sie die Firma nicht freiwillig heraus, wird der ganze Film verboten. (Dagegen gibt es Klage im Verwaltungsstreitverfahren oder die Beschwerde, die beide im Oberverwaltungsgericht als der letzten Instanz münden.) Gar nicht beleidigt schiebt der Mann ab; denn was er hier ausschneidet, wird er (mit Gott!) zu Hause wieder zusammenfügen. Deswegen sitzen hier zwei dicke, kurzstirnige Herren, Kriminalbeamte, die zur Anzeige bringen, was sie an Verbotenem sehen. Und so jagt ein Film den andern. In der Ecke steht ein bescheidener Mann, ein Schauspieler, der sich hier noch einmal bespiegeln will, und es ist auch alles so langweilig, dass sie ihm nichts streichen. Ein kleiner Herr kommt herein: er wünscht eine Titeländerung. ›Hujo, der Bandit‹ ist ihm nicht genug – ›Im Sinnestaumel‹ will er dafür haben. Genehmigt. Ach, wenn es doch wenigstens ein Sinnestaumel wäre! Aber es ist keiner.
Der Polizeirat mit der (symbolischen) Schere sitzt am Tisch und muß aufpassen. Er macht wundervolle Bemerkungen. Er ist klug und vernünftig (wie denn überhaupt bei uns die Geheimräte ebenso liberal und tolerant sind, wie die Subalternen grob und unfähig). Breit und gemütlich ruft er so allerhand dazwischen, Glossen, die noch beim übelsten Theaterpathos zu verwerfen wären – hier sind sie richtig. Vor diesen Kindern, die pausbäckig und langwimperig aussehen wie eine Reklame von Sunlight-Seife; vor diesen Automobilschiebern, die vorgeben, Detektive zu sein; vor diesen Sioux' – id est: der Naturmensch Voigt und Käsewillem mit die Locken ... hier muß man kapitulieren, sich übergeben. Diese Beamten kennen die Struktur jedes Films – ihnen kann man nichts mehr vormachen.
Und hier, aber nur hier, sind die Maximen am Platz, wonach zensiert wird. Wollte man in der Literatur keine strafbare Handlung, keine offene Gewalttätigkeit durchlassen, so müßte man mit Ausnahme der Heimburg alles verbieten.
Hier ist klare Berechnung auf Sensation. Diese Menschen haben Filme herstellen lassen, von denen wir dank der Zensur nichts ahnen. Alle in den landläufigen Filmen angedeuteten Grausamkeiten existieren ausgeführt. Sie werden gestrichen – aber hier wird jeder Mord, jeder Überfall langwierig und exakt vorgeführt. Es gibt einen (gestellten) Fliegerabsturz, dessen Ekelhaftigkeit seinesgleichen sucht. In brennenden Sparren wälzt sich ein blutender Klumpen – das Ding ist vorzüglich gemacht – eine Frau wirft sich verzweifelt über den Sterbenden, schreit, sie kommen mit der Tragbahre. Und das mit einer pedantischen Genauigkeit, die durch nichts gerechtfertigt ist als durch die Sucht, Geld zu machen, auf Kosten gequälter oder angeregter Nerven, je nachdem es sich um den Westen oder Osten einer Stadt handelt. (Als wieder einmal die Leichen dutzendweise herumlagen, und der Beamte murrte, sagte einer der anwesenden Filmisten: »Geschäft ist Geschäft.« Gewiß, und Schweinerei ist Schweinerei.) Nervenkitzel, auf Hintertreppenart – es ist ihnen alles gleich. Ein Mann liegt auf einer Säge, festgebunden auf Baumstämmen, immer näher rutscht er an die Zähne, immer näher; das dauert wenigstens zwei Minuten. Da sind die Krankenhausfilme mit Vivisektion, Serumseinspritzungen und Elendsgestalten im Bett. Da gibt es eine Augenoperation: der Kranke wird in ein weißes Tuch gehüllt, das nur ein Auge frei läßt; dann erscheint das Auge, riesengroß, die Lider von zwei Klammern auseinandergezerrt, und eine Spritze pikt langsam in das Weiße. So.
Hier ist der bürgerlich abwägende Normalbeamte am Platz. Hier kann kunstwidrig und trocken die Handlung des Intriganten gestrichen werden, »weil er ein gemeiner Kerl ist«. Hier ja. Weil das Pack vor nichts zurückschreckt. Weil sie bei dem Sturz des Fliegers von der Siegessäule behaglich kurbelten und nicht ruhten, als bis sie auch die widerliche Bergung der Leiche hatten. (Der Film liegt noch auf dem Präsidium.) Weil ihnen alles gleich ist, wenn es ums Geld geht; weil sie im Dreck wühlen, damit das zittrig-neugierige Publikum Einblick in wohlverhüllte Dinge bekomme. Sie haben »an Ort und Stelle« das Leben Jesu gefilmt, und sie würden auch heute noch eine Hinrichtung aufnehmen.
Daß da manches zum Opfer fällt, was ganz lustig ist – macht nichts. Ein reizender amerikanischer Damendarsteller, der noch im Korsett Zigarren rauchte, fiel – weil er ›auf perverser Grundlage‹ beruhe. Nun, diese Art Filme haben selten den Schick, den dieser Jüngling entwickelte, als er seine Röcke hochnahm, und trippelnd zu laufen begann, wie ein Weib. Meist haben wir nicht viel verloren. Und die andern, beschlagnahmten, die ich sah, waren wie üblich. Zum Abgewöhnen. Gewiß: Mißgriffe kommen vor. Ein Boxerfilm ging durch, auf dem die Kämpfer sportswidrig mit bloßen Fäusten, ohne Handschuhe aufeinander losprügelten – von derselben Verwaltung werden dem berliner Boxmeister Edwards die größten Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Immerhin: im großen ganzen ist es gut, dass in Zweifelsfällen gestrichen wird.
Aber ein andres ist eine Gefahr. Im selben Gebäude, ein paar Stockwerke höher, wohnt die Theaterzensur. Hier werden, immer noch, aus politischen, verwaltungstechnischen, unkünstlerischen Gründen, Kunstwerke umgebracht. Die Filmisten rennen gegen ihre Zensur mit unsern Gründen Sturm. Dieser Kampf schadet uns. Das will freie Hand haben, um Geld zu scheffeln, das kreischt aufgeregt von der Freiheit der Kunst und rempelt alle paar Nummern seiner Fachpresse Beamte an, die mehr Geschmack, Verstand und Anstandsgefühl haben, als die ganze Gesellschaft.
Die Filmzensur ist nötig. Weil Kinder eine starke Hand nötig haben. Und weil für eine Schulklasse von Rüpeln der Stock gerade gut genug ist.
Die Erwachsenen aber täten gut, die Kinder immer mehr von sich abzuschütteln und jede Zusammengehörigkeit auch im Schein zu vermeiden. Hier gibt es keinen Kompromiß. Hie Kunst! Hie Kino!"

(Zit. n.: Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig 1992, 214-219.) 

Montag, 9. April 2018

Erinnerungen an die Nacht.

Ich sagte zu ihr, sie solle mich irgendwo nahe der ehemaligen Grenze rauslassen. Das tat sie dann auch, in unmittelbarer Nähe jener Linie, die Deutschland bis vor einigen Jahrzehnten in zwei ungleichgroße Teile zergliedert hat. Vorausgegangen war eine reichlich seltsame Nacht, in der sie mich in einen anderen Ort mitnahm, der für seine winzige Technische Universität, und sein Bier berühmt ist, um einen, wie sie sagte, guten alten Freund zu treffen. Es war kurz nach elf, als wir endlich ankamen, ich noch immer angeschlagen von dem Pernod-Rausch vom Tag zuvor, und müde, und im Grunde unwillig, denn ich wollte in mein Bett, das ich seit achtundvierzig Stunden nicht gesehen hatte. Es stellte sich heraus, dass von den zwei Kneipen des Ortes eine nur Mitglieder einer Geschlossenen Gesellschaft aufnahm, dafür war die andere Alternative übervoll, und zu laut, für mich zumindest. Ebenfalls heraus stellte sich, dass ich mitten in ein Experiment hineingetaumelt war. Möglicherweise hatte sie mich deshalb überredet mitzukommen: Ich sollte jene Instanz sein, der man Objektivität zuspricht, obwohl sie kaum die Augen offenhalten kann. Gesehen hatten sich die beiden nämlich seit ungefähr zehn Jahren nicht. Auseinandergegangen waren sie als Feinde. Der Strang aus Zeit, der zwischen ihrem letzten Streit und ihrem jetzigen Wiedersehen lag, sollte ausreichen, allein durch die Kraft der Erinnerung aus einem ungelösten Konflikt ein herzliches In-die-Arme-Fallen zu machen. Das begriff ich freilich erst nach und nach, und als es schon zu spät war. Die These, eine gemeinsame Vergangenheit sei ein Garant dafür, grundlegende Diskrepanzen aufzuheben, allein weil sie in einen verhältnismäßig langen Zeitraum eingebettet werden, wurde jedenfalls fundamental widerlegt. Sie gerieten aneinander, wie zwei Hunde, denen der Geruch der jeweiligen Gegenseite vertraut ist, die aber gerade diese Vertrautheit zu noch heftigerem Bellen anstachelt. Die Rückfahrt hörte ich mir Geschichten wie Kriegsberichte aus ihrem Mund an, und sah bestimmt selbst wie jemand aus einem Schützengraben aus. So froh war ich, mich endlich gegen drei in fünf Decken wickeln zu können, dass ich nicht mal daran dachte, den Versuch zu unternehmen, irgendeine körperliche Nähe zu ihr aufkommen zu lassen, und, statt in der Nähstube, in ihrem Bett zu landen. Wenigstens der Schlaf war friedlich, und am nächsten Vormittag sagte ich in einem Übermut, der sich immer bei mir einstellt, wenn ich eine unbequeme Situation hinter mich gebracht habe, und außerdem physisch nicht auf der Höhe bin, zu ihr: Lass mich einfach irgendwo nahe der ehemaligen Grenze aus!, und wollte dabei klingen wie jemand von vor drei Jahrzehnten, der drauf und dran ist, über den Brocken rüber in den Westen zu machen, und eigentlich genau weiß, dass er entweder im Knast oder, noch besser, von Schüssen zersiebt im Harzunterholz enden wird, der aber zu viele Filme, zu viele schlechte Romane gelesen hat, als dass ihn das irgendwie davon hätte abhalten können.


Der gleiche Übermut, der sich an mir manchmal festbeißt wie ein Fangeisen, dem man, weil man es kommen sieht, ausweichen könnte, aber: scheiß drauf!, führt schließlich dazu, dass ich die ausgeschilderten Wege verlasse. Ich wollte mir einen künstlichen Wasserfall anschauen, von dort in einen vielleicht zehn Kilometer entfernten Kurort wandern, und dort dann die Bahn nehmen, die mich quasi direkt in meine flaumige Kätzchenbettwäsche geführt hätte. Aber, wie das eben so ist, wenn man ausgeschilderte Wege verlässt, und nur ein Mobiltelefon von Anno 1870 bei sich hat, und sich nicht mal die Windrichtung gemerkt hat, aus der man gekommen ist, findet man sich schon nach kurzer Zeit im Niemandsland wieder. Das heißt, es gab dort schon Gesellschaft. Moos hatte herumliegende Gesteinsbrocken mit ziemlich weichen Kleidchen ausgestattet. Überall pfiff und zwitscherte es, um mir mit einer viel zu großspurigen Geste zu erklären, dass der Frühling nun wirklich bald hereinschneite. Außerdem war da plötzlich eine Spur wie von schweren Rädern: Links und rechts von mir hatten die sich in die sehr weiche, sehr feuchte Erde gegraben, während in der Mitte eine schmale Spur Gras verlief, ähnlich der wie sie sich manche Frauen im Intimbereich stehenlassen. Obwohl zu beiden Seiten überall kleinere Sträucher und Farn wuchs, und meine Füße damit vor der Feuchte und Weichheit der Erde wenigstens ein bisschen geschützt gewesen wären, musste ich natürlich direkt in der Spur der Räder laufen. Größer, tiefer wurden die Pfützen in ihnen. Irgendwann hatte ich richtige Schlammlöcher vor den Schuhspitzen. Unbeirrt ging ich weiter, fing an zu springen, mich von halbwegs trockener Stelle zur nächsten zu hangeln. Selbst die waren aber bald nichts mehr als trügerische Fassaden: Ich brach mit dem linken Fuß ein, stak bis zum Hosenbein im kalten Morast, schaffte es kaum, mich herauszuziehen, ohne meinen Schuh zu verlieren. Erst das ließ mich auf die Seitenspur wechseln. An einem sehr schmalen, sehr flachen Bachlauf angekommen, lachte ich mich erstmal selbst aus. Ohne Netzempfang, ohne was zu trinken oder zu essen, ohne die geringste Ahnung, wo genau ich mich befand, zog ich mir Schuhe und Socken aus, um sie im klaren Wasser zu säubern. Wenigstens die Grenzer würden mich nicht finden, dachte ich, halb aus Frust, halb aus Belustigung schon wieder voll in meinem Abenteuerfilm. Ich hatte natürlich nicht bedacht, dass das Wasser den Schlamm noch tiefer in meine Schuhe hineinspülen würde, und dass sie nach der Waschung außerdem komplett nass und eiskalt waren.


Während ich weiterzog – klug immerhin, dem Bach nicht mehr von der Seite zu weichen, auch wenn es natürlich hätte sein können, dass ich irgendwann vor seinem Ursprung stand, und nicht in irgendeinem Tal, wo er hinplätscherte – erinnerte ich mich daran, wie ich vor drei Jahren versucht hatte, von Barcelona nach Valencia zu laufen. Weshalb Valencia? Weil ich dort mit meiner Freundin gewesen war, wenige Wochen, bevor sie sich von mir trennte, fast so, als wollte man noch mal etwas Einprägsames zusammen erleben, bevor man auseinanderging. Weshalb Barcelona? Weil ich für einen Freund eine komplette Architekturhausarbeit über Antonio Gaudí geschrieben hatte, und ich mich so weit in das Leben und Schaffen des katalanischen Baugenies vertiefte, dass mein Freund einerseits eine 1,0 bekam, ich andererseits unbedingt die Sagrada Familia sehen wollte, die Casa Battló, den Park Güell, und natürlich die Stelle, wo Gaudi von der Straßenbahn überrollt worden ist. Naiv wie ein Kind nahm ich fast nichts mit außer Zelt und Schlafsack, und ging immer dem Küstenverlauf nach. Silvester wollte ich in Valencia sein, sagte ich mir. Das zeigt schon, zu welcher Jahreszeit ich meine Pilgerschaft von knapp dreihundertfünfzig Kilometer antrat. Ich fror schrecklich. Ich übernachtete, wenn es regnete, in an Häfen vertäuten Booten, oder am Strand, wo mich einmal eine schnüffelnde Hundeschnauze weckte. Ich fuhr letztlich teilweise Strecken mit der Bahn, weil ich fürchtete, eine Lungenentzündung zu bekommen, sofern ich mich weiter der grausigen Witterung aussetzte. Schließlich verlaufe ich mich im Nationalpark Albufera, einer Lagune südöstlich von Valencia, wohin mich jemand per Auto mitgenommen hat. Dort spielt nicht nur der Roman Cañas y barro des Naturalisten Vicente Blasco Ibañez aus dem Jahre 1902, sondern exakt dort habe ich mich, wiederum ein Jahr zuvor, gefragt, ob Sex wirklich das beste Mittel ist, Dinge zu übertünchen, die eigentlich offen zutage liegen, und regelrecht verlangen, gesehen zu haben. Ob ich überlebe, dachte ich, ist fraglich, verloren in dieser endlosen Sumpflandschaft, die zudem komplett vernebelt, eiskalt, verregnet war, und ohne den geringsten Orientierungspunkt. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Todesangst, die aber schnell umschlug in den hingehauchten Trost, wenigstens auf besonders originelle Weise zu Grunde zu gehen. Dann aber sehe ich im Dunkeln plötzlich eine Gruppe erleuchtete Hochhäuser in der Ferne, und laufe auf sie zu, und finde mich – es ist wie in einem verdammten Traum! – an einer Tankstelle wieder. 


In dem Moment ist etwas Kurioses passiert: Die Freude, sozusagen gerettet zu sein, und endlich was essen und trinken zu können, wich der Irritation, dass die Ecke mit der Tankstelle und gegenüberliegendem Stehimbiss genauso aussah wie die Ecke mit Tankstelle und gegenüberliegendem Stehimbiss in der Stadt, in der ich damals schon und heute noch hauptsächlich wohne. In Spanien befindet sie sich etwa zehn Kilometer von Valencia entfernt, in einer eher ärmlichen, nicht wirklich hübschen Gegend mit zweckmäßigen Bauten. In Deutschland befindet sie sich nur wenige Gehminuten sowohl, in die eine Richtung, vom Braunschweiger Hauptbahnhof, und, in die andere Richtung, vom Braunschweiger Hauptfriedhof entfernt, in einer eher mittelständischen, nicht wirklich attraktiven Gegend voller zweckmäßiger Bauten. Letztlich ist mir die Verwundung darüber, wie ähnlich sich die beiden Straßenkreuzungen aussahen, deutlicher im Gedächtnis geblieben als die zuvor zwischen Schilf und Schlamm verbrachte Höllennacht. Wenn, wie Nietzsche sagt, die Dinge endlos wiederkehren, dachte ich mir, einem Bachlauf irgendwo im Harz folgend, müsste ich ja, wenn ich heil aus dem Wald herauskomme, wiederum eine dritte Tankstelle treffen, die mich an die beiden vorherigen erinnert. Es kann sein, dass ich mir das einbildete, weil ich unbedingt sehen wollte, was ich mir so schön zurechtgelegt hatte, aber endlich gegen Abend in genau – was für ein Zufall! – jenem Kurort eintreffend, den ich mir als Ziel auspickte, komme ich an einer Tankstelle mit gegenüberliegendem „Spezialitätenladen“ vorbei, der allerdings nur zu Billigpreisen Cheesburger, Döner und fettige Pommes verkauft, mich komischerweise allerdings nur an die Braunschweiger Tankstellen-Imbiss-Installation erinnert, aber nicht an die in Valencia, so, als würden die Kongruenzen, je weiter ihre von mir imaginierten Idealtypen in die Vergangenheit rücken, blasser oder ungreifbarer werden. Aus Nostalgie bestelle ich mir Pommes, und kann sie kaum kauen, so salzig sind sie, und überlege, dass man so etwas doch mal in Angriff nehmen müsste: Die Welt bereisen, und genau solche Ecken suchen, Tankstellen und Imbisse, und sie photographieren oder abfilmen, und aneinanderreihen, und am Ende würde es so aussehen, als sei es immer die gleiche Ecke, nur steht unter jedem Bild ein anderer Ort: Tanger, und Istanbul, und Burgwedel, und Rügen, Nairobi, Oslo, Santiago. Die Zeit dazu habe ich nicht. Ich muss mich schon beeilen, meinen letzten Zug zu kriegen. Auf der Fahrt albert ein kleines Mädchen mit seiner Mutter und älteren Schwester herum. Sie erzählt, eine Freundin von ihr habe sich die Haare abgeschnitten, und sähe jetzt aus wie ein Junge. Ich merke gar nicht, wie der getrocknete Schlamm von meinen Schuhen auf den Abteilboden rieselt, wie mein verschwitzter Pullover ausdünstet, wie mein Magen, trotz der Pommes, schon wieder zu knurren anfängt, und wie es allmählich Ostern wird. 


Ich erinnere mich, quasi im Halbschlaf, an einen Film, den ich vor Jahren im Kino gesehen habe. Fünfzehn Städte hat Clemens Klopfenstein für seine 1978 erschienene GESCHICHTE DER NACHT bereist, von Basel bis Belfast, und sie in ihrem Nachtgewand zwischen drei und fünf Uhr morgens gefilmt: Menschenleere Straßenkreuzungen, die an die Photographien Atgets erinnern. Stumpf vor sich hin summende Laternen. Ampeln, die von Grün auf Rot schalten, obwohl keine Autos da sind, die ihren Befehlen Folge leisten könnten. Rolltreppen in Hauptbahnhöfen, die ohne zu befördernde Fracht rasseln. Vereinzelte pulsierende Punkte wie Tanzlokale, aus denen Reggae in die Nacht dringt; eine Gartenparty mit einem Tisch voller Weinflaschen; eine religiöse Prozession, bei der eine Marienstatue und Fackeln durch die Dunkelheit getragen werden; schließlich: der Muezzin-Ruf, der die schlaftrunkenen Gassen nicht aufscheucht, sondern sie noch lebloser wirken lässt. Klopfenstein kompiliert seine ausnahmslos in statischen, grobkörnigen Schwarzweißbildern geschossenen Aufnahmen zu einer Querschau über das, was in Europas Metropolen passiert, wenn das Gros ihrer Bevölkerung in den Federn liegt – oder eben genau diesen eigenartigen Zustand der Leere und Ereignislosigkeit, wo überhaupt nichts über die Bühne geht. In welcher Hemisphäre wir uns gerade genau befinden, verraten höchstens mal mehr, mal weniger offensichtliche Indizien wie fernes Möwengekreisch, das auf den Asphalt gepinselte Wort SLOW, eine britische Flagge, die einsam vor einem Wohnhaus weht, Transparente mit griechischen Schriftzeichen und Plakate auf Französisch. Das sind aber Ausnahmen, die deshalb ins Auge stechen, weil es sonst keine Koordinationspunkte gibt, die verhindern würden, dass Klopfensteins Bilder zu einer einzigen Symphonie der großstädtischen Nacht verschmelzen – sozusagen das meditative, asketischere Gegenstück zu Walter Ruttmanns BERLIN oder Kemenys und Lustigs SAO PAULO. Symphonie auch deshalb, weil die einen eigenartigen Sog entwickelnden Bildfolgen von schneebedeckten Gehwegen, auf Nachtbusse wartenden Frauen mit Kopftuch und über Wolkenkratzern kreisenden Vogelschwärmen mit dem dezentesten Soundtrack unterlegt worden ist, den man sich vorstellen kann: Straßenlaternenbrummen, orientalische Zupfinstrumente und intimes Schlagwerk, für das die Third Ear Band zuständig ist, die zuletzt Polanskis MACBETH vertont hatte, untermalen die ineinander verschmelzenden Ansichten, mit denen Klopfenstein regelrecht zu den frühsten Ambitionen des Kinos zurückkehrt, Dinge einfach um ihrer selbst willen zeigen zu wollen, weniger, als dass sie in ihnen verschwinden. 


Ein Straßenhund sucht währenddessen im Müll nach Essensresten. Ein Türsteher vor einem Club, in dem ein Mann seine unwillige Freundin auf die Tanzfläche zerrt, wo sie dann aber doch Gefallen an ihren sich wiegenden Hüften findet, wird auf die Kamera aufmerksam, und kommt etwas bedrohlich näher, um zu schauen, wer ihn da filmt, und weshalb. Weiterhin blinken die Ampeln sinnlos vor sich hin, und rattern die Rolltreppen, und führen verkleidete Menschen eine Art Perchtentanz inmitten einer Schneelandschaft auf, unter der irgendeine andere Metropole begraben liegt. Wie hypnotisch diese GESCHICHTE DER NACHT, die genauso sehr eine Geschichte der Zeit hätte sein können, nämlich darüber, wie sie verrinnt und stagniert, oder beides, ist, merkt man erst, wenn nach knapp einer Stunde Laufzeit das gefrierende Bild zu einer Stillphotographie wird, und man erwacht, so, als sei es plötzlich Morgen geworden.


Damals, nach meiner Erstsichtung dieses bescheidenen Meisterwerks, habe ich mir zwei Sätze notiert. Zum einen, dass GESCHICHTE DER NACHT, wenn der Film ein Musikalbum wäre, ungefähr so klingen würde wie die frühen Sachen von Tangerine Dream, als das Genre, das man heute Ambient nennt, noch in den Kinderschuhen steckt, und mit vergleichsweise primitiven Synthesizern epochale Klangteppiche gezaubert wurden, so lang wie eine LP-Hälfte: Dumpfe, monotone, amorphe Soundmassen, die einen zuerst vielleicht abstoßen oder zu Tode langweilen, die einen dann aber umso mehr affizieren, wenn man sich auf sie einlässt, und erstmal die, sagen wir, ersten fünf bis zehn Minuten erfolgreich hinter sich gebracht hat. Mein zweiter Satz lautete: Rückblickend betrachtet hat die Globalisierung dazu geführt, dass wir der Welt näher rücken, nur um zu sehen, dass sie überall gleich aussieht. Das ist vielleicht ein bisschen harsch ausgedrückt, aber die Erkenntnis lässt sich doch aus Klopfensteins Film ziehen: Ob diese Straßenecke nun in Großbritannien, in der Türkei oder in Österreich verläuft, kann man allein an ihren (nicht vorhandenen) architektonischen Besonderheiten nicht ablesen. Es ist ein bisschen wie mit Andy Warhols berühmten Ausspruch: The most beautiful thing in Stockholm is McDonald's. The most beautiful thing in Florence is McDonald's. Peking and Moscow don't have anything beautiful yet. Allerdings muss ich mich korrigieren: Meine Notiz könnte so gelesen werden, dass die Straßenecken der Metropolen dieser Welt, ihre Ampeln, ihre Zweckbauten, ihre Industriegebiete schon gleich aussahen, bevor die Globalisierung eingesetzt hat, dabei sind sie wohl doch eher ein Nebenprodukt genau dieses Prozesses. Eine dezidiert politische Aussage scheint mir in Klopfensteins Film aber nicht verankert zu sein. Es geht ihm um die Bilder, ihre Ästhetik, den rhythmischen Fluss der Montage. Es geht um einen der wohl eigenwilligsten rein visuellen Reiseberichte, die ich jemals gesehen habe.